Der Sommer ist vorbei und mit ihm auch die Festivalnächte.
Michael Walser blickt in einer Mini-Reportage auf das Gurtenfestival 2024 zurück:
Die 41. Edition des "Güsche" ist in diesem Jahr im Wortsinne "glatt über die Bühne gegangen". Glatt, weil sehr vieles sehr gut funktioniert und gepasst hat, angefangen beim Wetter - durchgängig sonnig und trocken bis kurz vor Schluss -, über das Line-Up - fresh, divers, mit fröhlich inklusivem Charakter - bis zum Klima und Umgang unter den Feierwütigen - grösstenteils respektvoll, friedlich und entspannt. Mittendrin und nicht nur dabei war dieses Jahr erneut, aber das erste Mal in ausgebauter Stärke, das Careteam von Kontext Mensch. Vier Tage und Nächte voller spannender Begegnungen, herausfordernden Situationen und schöner (Festival-)Momente auf einem der Klassiker der schweizerischen Musikfestival-Szene, geprägt von der nicht wirklich überraschenden Erkenntnis: Alkohol ist nicht zwingend immer ein Freund. Drei Episoden aus der Arbeit des Kontext Mensch Careteams auf dem Gurten 2024.
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Dort liegt sie. Halb unterhalb eines Stands des Food-Courts des Festivals, halb auf dem Raum vor dem Counter, an dem die Festivalbesucher*innen sich ihre Mahlzeit bestellen und entgegennehmen. Brechend voll ist der Court um diese fortgeschrittene Uhrzeit am letzten Festivaltag, der bei bestem Wetter auch vom Line-Up her Zug beim Publikum entwickelt hat. Dort liegt sie also, die junge Frau, die höchst wahrscheinlich seit geraumer Zeit selbst einen ziemlichen Zug am Berg entwickelt hat und daher nahezu komplett alkoholisiert weggetreten auf der Erde liegt. Der Anblick lässt das persönliche Stresslevel und die Sorge um den Zustand der Frau bei den Umstehenden rasch merklich ansteigen. Bei Eintreffen der alarmierten Careteams sind bereits Sanitäter*innen vor Ort, die ihre liebe Mühe haben, die Frau, die ohne jegliche Körperspannung und ohne willentliche Resonanz auf Ansprache unfähig ist, bei ihrem Abtransport mitzuhelfen, transportfähig zu machen. Bei der Betrachtung dieser Situation kommt einem unweigerlich das Bild einer Marionette in den Sinn, der die Fäden gekappt worden sind und bei der keine Steuerbefehle mehr ankommen. In dem Fall ist umgehend klar: das ist definitiv keine Aufgabe für die psychosoziale Unterstützung, die das Careteam von Kontext Mensch den Menschen auf dem Gurten anbietet. Nicht in dem Zustand der Betreffenden. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Wie soll man auch jemandem im Gespräch Unterstützung anbieten, der selbst partybedingt zumindest temporär gerade seiner Muttersprache und der Kontrolle wesentlicher Körperfunktion verlustig geworden ist? Mit sozialarbeiterischem Handwerkszeug wohl eher nicht. Da kommt einem zwangsläufig ein zünftig abgelatschter Treppenwitz der Sozialarbeit in den Sinn, der besagt, dass diese nur für lösbare Probleme zuständig ist. Was für diese Situation zweifelsohne der Fall ist. Und so verlassen mit diesen und ähnlichen Eindrücken und Einschätzungen versehen die herbeigerufenen Careteams, bestehend aus divers kombinierten Tandems, die durchaus bedrückend wirkende Szenerie. Schliesslich ist es so: Der Abend ist noch lang, die Musik noch lange nicht aus und die vielen Bars hochfrequentiert. Somit heisst es: weiterhin unterwegs sein; Waldbühne, Main-Stage, Soundgarden, Supermercado, Zeltbühne. Toure um Toure, Rotation um Rotation. Weiterhin Präsenz auf dem Gelände zeigen, die giftgrünen Westen mit der Beschriftung "Care Team" herzeigen und einen aufmerksamen Blick über die Menschen und das Gelände wandern lassen. Weiterhin ein achtsames Ohr auf den Funk haben, denn: es tut sich was im Äther. Die nächsten Aufträge kommen herein. Der Berg feiert, der Berg tanzt, der Berg flirtet - oder versucht es zumindest -und: der Berg trinkt weiter. Nicht nur nicht wenig, sondern mitunter auch deutlich zu viel. Eine Festivalrealität, die sich immer wieder in verschiedensten Situationen zeigt. Es wird viel gelegen, auf dem Gurten. Nicht immer freiwillig. Nicht immer bequem. |
Lebenskrise / Krisenleben |
So ein Zelt als Stützpunkt für das Careteam auf dem Festivalgelände ist schon eine feine Sache, vor allem, wenn die Ausstattung stimmt: Kühlschränke mit diversen Softdrinks für die nachtaktiven Careteam-Kontextolog*innen, die pro Schicht einiges an Kilometern abspulen. Gut abgetrennte Ruhe-Boxen, die den Festivalgänger*innen zur Verfügung stehen, falls Ruhe, Abschirmung und Reizreduktion grad' die vordringlichsten Bedürfnisse sind. Laptop- und Funkausrüstung am Schalter, mit deren Hilfe die Einsätze der Teams auf dem Gurten dispatcher-mässig durch eine Einsatzleitung und eine zuständige Supervisorin organisiert, überwacht und dokumentiert werden. Alles im grünen Bereich somit. Noch grüner wäre es natürlich, wenn eine gewisse Kleinigkeit aus dem Bereich des Bauingenieurwesens auf Anhieb geklappt hätte, nämlich: ein ebenerdiger, nivellierter Boden, der die Hanglage, auf dem das Zelt des sogenannten Care-Points errichtet wurde, ausgleicht. In der Zeitknappheit vor Eröffnung des Festivals ist diese Feinheit wohl nicht mehr auf dem Schirm gewesen bei den Verantwortlichen für den Aufbau, sodass das Gleichgewichtsorgan jener, die sich kürzer oder länger in dem Zelt aufhalten, auch so einiges an Arbeit zu leisten hat. Kinderkrankheiten noch, dies. Seekrankheit auf einem Berg, auch dieses Erlebnis gehört zum Erlebnis-Angebot des Gurtenfestivals 2024. Mit sowas kann nicht jede Veranstaltung aufwarten, Ehre wem Ehre gebührt, denkt sich da vielleicht - nicht nur - der*die - im wahrsten Wortsinne "geneigte" - Kund*in bei Betreten des Zelts. Und von denen gab es über die gesamte Festivaldauer einige. Mit Anliegen, Fragen und Bitten, so divers und vielschichtig, wie die Menschen selbst, die auf dem Hausberg Musik, Gesellschaft und eine grosse Pause vom Alltag geniessen. So suchen situativ reizüberflutete Festivalbesucher*innen den Care-Point auf, um das aufgeputschte Nervensystem ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen. Junge Mütter nutzen die Diskretion und Abgeschiedenheit der Ruhe-Boxen, um ungestört und unbeobachtet Milch abzupumpen. Mittelschwer- bis schwerer Alkoholisierte machen eine Zwischenpause auf ihrem beschwerlichen Weg herunter vom Gelände - oder auch nur auf dem Weg zur nächsten Bar. Und aktuell psychisch besonders Belastete suchen einen Platz, an dem ihnen zugehört wird und sie ihre Sorgen, Nöte und Gedanken teilen können. Dies und einiges mehr erhalten in den Abenden und Nächten des Festivals alle, die den Weg in den Care-Point finden. So wie der Mann in seinen frühen Dreissigern, der noch recht früh am Festivalabend an das Desk herantritt und die zuständigen Mitarbeiter*innen in ein Gespräch verwickelt, das am Schluss deutlich länger als gedacht dauert. Befeuert durch einiges an Alkohol, die vielgestaltigen Eindrücke und sozialen Interaktionen auf dem Gelände, berichtet er von seinen aktuell bestehenden Lebenskrisen, seiner Vielzahl gescheiterten Beziehungen, seiner wahrgenommenen beruflichen Verunsicherung und seiner zurückliegenden, haarsträubend missgeleiteten Psychotherapie sowie dem Schaden, welche diese bei ihm angerichtet habe. Für diese Sorgen und Nöte findet er im Care-Point nicht nur ein offenes Ohr und eine Schulter auf Zeit, an die er sich anlehnen kann. Er findet darüber hinaus eine Möglichkeit, seine Situation mit fachlicher Unterstützung vorurteilsfrei zu reflektieren und Schritte ins Auge zu fassen, seine bestehenden Herausforderungen planvoll und überlegt anzugehen. Dann, wenn er wieder runter ist vom Berg. Dann, wenn sich der Rausch und dessen zwangsläufig im Hintergrund immer mitfeiernder Kollege Kater sich verabschiedet haben. Dann, wenn der Lebensalltag ihn wieder fest im Arm hält. Oder aber im Half-Nelson - zudrückend, fest und ohne Chance, abzuklopfen… |
Wer flirten will, muss nett sein - und / oder einigermassen nüchtern... |
Schwerfällig der Tanzstil, auf halb-acht die Augenlider, schwankend-ungelenk die gesamte Motorik. Die Kurvenschuhe sind nicht erst seit einer halben Stunde montiert, soviel Klarheit schafft bereits der erste Aussenblick. Somit alles immerhin im erwartbaren Bereich bei dem Herrn, der sich nach 2:30 Uhr am Supermercado, der Zeltpyramide mit den unvergleichlich-unwahrscheinlichen DJ-Dauer-Mashups, die bis in die frühen Morgenstunden das Gelände und die Partymeute darauf, nun ja, mit einem auditiven Flächenbombardement belegt, dem feucht-fröhlichen Treiben hingibt. Den Raum vor dem Supermercado als "voll" zu bezeichnen erscheint als ein Euphemismus der ganz steilen Sorte, insbesondere nachdem die letzten Bands des Abends ihr Equipment eingepackt und die Bühnen die Lichter gelöscht haben. Dann strömt ein Grossteil der Besucher*innen vor eben jene Zeltpyramide, vor und in der bis zuletzt noch Körper an Körper weitergefeiert und begleitet weitergetankt wird. Das geltende nächtliche Motto lautet dann ganz anschmiegsam: Eng ist ein dehnbarer Begriff. Auch wenn coziness individuell durchaus anders wahrgenommen werden sollte, einen alkoholgeschwängerten Schrei nach es bitzeli weniger sozialer Kälte könnte man mit ganz viel gesellschaftskritischem Grundtonus ggf. unterstellen. Im Minimum aber auch das ganz schlichte Bedürfnis in genau dieser Nacht mitgenommen zu werden. Entsprechend ähnlich erscheint wohl auch der Plan des Tänzers mit dem alkoholinduzierten Schlafzimmerblick zu sein; weiter feiern und weiter litern. Durst hin, Durst her. Komme, was und wer da wolle. Und ganz sicher nicht frei von der Leber weg, sondern dezidiert und absichtsvoll direkt auf diese zu. Denn was wäre so ein Gurtenfestival ohne die "zwischenmenschliche Komponente", ohne die Möglichkeit, rasch und unkompliziert mit anderen Menschen in engeren - da ist das Motto wieder - Kontakt zu treten, sei es für acht Minuten, zwei Tage, 15 Jahre oder aber für das gesamte Leben? Sicherlich nicht der Ort, der in der Vergangenheit die Bezeichnung "Gurten-Babies" ursächlich zu verantworten hatte und als eine der grössten und lautesten Partner*innenbörsen im Mittelland gilt. Dies oder ähnliches scheint sich auch der erwähnte Tänzer zu denken, der zunehmend überraschend wahllos, dafür mit einem noch erstaunlich festen Griff um den halbvollen Bierbecher sowie schwankend wie eine Trauerweide im ersten Herbststurm des Jahres mit Frauen in Kontakt zu treten versucht - und eine Abfuhr nach der nächsten mitnimmt. Präzise platzierte Körbe im Minutentakt, sportlich scheint er es jedenfalls zu nehmen, wenn kaum eine der Angesprochenen reagiert wie von ihm erhofft. Selten ein Lächeln oder das Eintreten in eine Unterhaltung. Stattdessen immer wieder die klare und unmissverständliche Abgrenzung gegenüber seinen Annäherungsversuchen - nicht antworten, wegdrehen, Distanz herstellen. Vom Subtilitätsgrad der Bedeutung her - Sorry, aber heute und so sicherlich nicht! - vergleichbar missverständlich wie das letzte Bernmobil-Tram, das einem ungerührt vor der bettreifen Nase davonfährt. Der Tänzer lässt sich aber so schnell nicht entmutigen, schliesslich ist der Festivalabend noch jung, das Publikum attraktiv, er selbstdiagnostiziert in Höchstform und der "Güsche" halt nur einmal im Jahr. Somit also: gleich hin zu den nächsten Besucherinnen. Klein oder gross, blond oder dunkelhaarig, Anfang Zwanzig oder Ende Dreissig, Kleidung körperbetont oder eher bewegungsorientiert, völlig egal; wer nicht wagt, der stets verliert. Alleine nach Hause gehen macht einsam und so probiert er es immer wieder und immer direkter mit seinen Kontaktversuchen und schneidet dabei nicht mit, dass die Ablehnungen seiner Avancen immer spontaner und immer entschiedener erfolgen. Inzwischen sind die Abgrenzungen der angesprochenen Frauen auch für Aussenstehende sehr deutlich wahrnehmbar, zornig die Mimik, aufgebracht die Gestik, deutlich das Verbale. War da nicht grad' auch seine Hand an einem Gegenüber? Oder doch nicht? Es ist so eng, da sieht man ja die fremde Hand vor Augen nicht… Schon schalten sich einige umstehende Männer ein, um den immer schneller unkontrolliert interagierenden Tänzer ins Gebet zu nehmen, was sein zunehmend störendes und übergriffiges Auftreten und Verhalten angeht. Aus gewisser Distanz beobachtet ein Careteam-Tandem die Szene und nimmt die zunehmende Anspannung unter dem Publikum, die das Verhalten des betreffenden Mannes hervorruft, wahr. Nachdem die Zeichen immer deutlicher auf Eskalation stehen, entscheidet sich das Team, zu intervenieren und den Betreffenden anzusprechen. Wobei bereits dies einer mission impossible nahekommt, gemessen an dessen alkoholisiertem Zustand, der als zumindest mittelschwer taxiert werden muss. Zwar lässt sich der Besucher auf eine Form von "Gespräch" ein, verfügt aufgrund seiner konsumbedingten Lage jedoch kaum noch über die nötigen Kapazitäten, inhaltlich zu folgen oder reflektiert zu reagieren. Schwer ist die Zunge, schwerer noch der Geist. Da hilft das neue, frisch gezapfte Bier in seiner Hand auch nicht wirklich, eine neue Runde Ballastwasser ist anvisiert. Somit trennt man sich nach einem kurzen, wenig fruchtbaren Austausch wieder mit dem Hinweis, dass ganz offensichtlich erscheint, dass seine Kontaktversuche so und heute sicherlich zu nichts Gutem mehr führen und es doch jetzt - schwankenden Fusses - der ideale Zeitpunkt wäre, den Abend zu beschliessen. Im Wissen um die beratungsallergische Reaktion des Mannes verbleibt das Careteam die nächsten dreissig Minuten in der Nähe und auf Position und stellt sicher, dass der Angesprochene dessen Präsenz bemerkt; auf ihm ruhende, bewusst aufmerksam gestaltete und geschärfte Blicke inklusive. Dergestalt in enge Manndeckung genommen vergeht dem Tänzer offenbar die Partylaune, schliesslich haben auch einige Personen rundherum das Schauspiel miterleben und sich ein Bild machen können. Abschliessend und endlich verlässt er den Bereich des Supermercado erstaunlich zielsicher in Richtung Ausgang. Zwar nicht tanzend, dafür gehend. Wenn auch schwerfällig. Aber immerhin: gehend, schwankenden Fusses. |